Travemünde
von Gertrud Kolmar
Über uns Abend: schwaches Rosenflehn.
Unter uns Sand. Tote Muscheln. Tang.
Um uns Wind in finsterer Mäntel Wehn
Und Meergesang.
Unsere Nüster sog, die Lippe sann
Ruch von Salz und See und Nichtmehrsein,
Da das Wasser gnadelos hinverrann,
Bleich am Strande traurige Fische schrein.
Seine Lieder troffen von Ewigkeit,
Seine Stirnen schäumten glasiges Licht,
Seine Augen schauten, leer und weit,
Sinkender Welt Gesicht.
Unser zarter Tag entzitterte welk,
Hing wie Fledermäuse im Winterschlaf
Mit erstarrten Träumen am Gebälk
Schwarzen Leuchtturms. Und das Murmeln traf
Unsere Seelen, wallte, wurde groß
In der Brust dir, die umwuchert schwand
Unter Algenhaaren, nachtgrünem Moos.
Und du rührtest mich mit kühler Hand
Stillen Meeres …
Fragiles Glück
„Aus dem Dunkel komm ich. / Durch finstere Gassen schritt ich einsam.“ Gertrud Kolmar, die 1943 in Auschwitz starb, ist bis heute eine geheimnisvolle Gestalt. Auch ihr Werk bleibt vielfach rätselhaft und ist, ungeachtet aller editorischen Bemühungen, nie so angenommen worden, wie es seinem Rang entspricht. Im Dezember 1934 traf sie sich zum ersten Mal mit einem acht Jahre jüngeren Mann, für den sie lange eine ebenso heftige wie hoffungsvolle Liebe empfand. Es war der 1902 in Heidelberg[-Rohrbach] geborene (und dort 1989 gestorbene) Karl Joseph Keller, der zum Zeitpunkt des Zusammentreffens bereits zwei Gedichtbände veröffentlicht hatte, so beim angesehenen Verlag Wolfgang Jeß in Dresden die „Gesänge an Deutschland“, hochfahrende Verse, die in ihrer pathetischen Abgehobenheit ein wenig an Hölderlin, mehr jedoch an den ebenfalls in Heidelberg lebenden Albert Mombert erinnern. Der glühende Verehrer Deutschlands und die ausgestoßene, verfolgte Jüdin – ein ungleiches Paar, das die mit Gertrud Kolmars Leben und Werk wissenschaftlich Befassten stets aufs Neue zu irritieren scheint.
Denn die Dichterin war von Keller, der sich mit dem Nimbus des Abenteurers und Klabautermanns umgab, nicht nur persönlich gefesselt, er hat auch in einigen ihrer bedeutendsten Texte Spuren hinterlassen. So tritt Keller etwa in dem mythischen Zyklus „Welten“, der letzten abgeschlossenen Gedichtsammlung Kolmars, entstanden 1937, erstmals gedruckt 1947, überdeutlich in Erscheinung. Auch zwischen Gedichten Kolmars und Kellers gibt es spannungsreiche Beziehungen.
Weihnachten 1939 hat sie ihn zum letzten Mal in Ludwigshafen aufgesucht, wo er bei der IG Farben als Chemielaborant arbeitete. Sie wollte ihm seine Briefe und Manuskripte zurückgeben, die bei ihr nicht mehr sicher seien, und erhoffte sich wohl auch Schutz und Hilfe oder wenigstens Zuwendung. Doch Keller, nicht nur ein blasser Poet, sondern auch ein schwacher, zum Selbstmitleid neigender Mensch, hatte hinter ihrem Rücken längst eine andere geheiratet und wies Kolmar ab, die fluchtartig aufbrach. Vermutlich hat er anschließend, aus Furcht, seine Beziehung zu einer Jüdin könnte entdeckt werden, sämtliche Briefe, auch die ihren, vernichtet.
Genau fünf Jahre vorher, bei jener ersten, von Kolmar als „schön“, ja glückhaft empfundenen Begegnung, hielten sich beide etwa drei Tage lang in Hamburg und Lübeck auf. Sie besuchten die Kunsthalle, standen vor dem Buddenbrock-Haus, gingen in Travemünde am Strand spazieren. Bald darauf dürfte Gertrud Kolmar die sieben Gedichte niedergeschrieben haben, die sie als ihr „Reisetagebuch“ bezeichnete. Das mit „Travemünde“ überschriebene schildert einen gemeinsam-einsamen Winterabend am Meeresstrand.
Die Verse sind meist fünfhebig, gereimt und von einem starken Rhythmus bewegt. Das Metrum ist uneinheitlich, es springt, oft mitten im Vers, vom Daktylischen ins Trochäische und umgekehrt. Ein düster-stimmungsvoller Text; man meint, den leeren Strand am Abend zu sehen, das Meer zu hören und zu riechen. Und man ahnt, wie fragil dieses späte „Glück“ der Gertrud Kolmar war, wenn von „sinkender Welt“, „gnadelos“ verrrinnendem Wasser und „schreienden“ Fischen die Rede ist. Vor der „Ewigkeit“ der gewaltigen Natur erzittert „unser zarter Tag“. Doch ein Abglanz des murmelnden Meeres lebt auch in der Brust des Geliebten weiter, der am Ende des Gedichts angesprochen wird und im mythisch-erotischen Bild des Wassermanns erscheint: „In der Brust dir, die umwuchert schwand / Unter Algenhaar, nachtgrünem Moos.“
Ähnlich hat Kolmar in anderen Texten die Vereinigung der liebenden Frau mit dem „Schwan“, der mit dem „Wassermann“ verschmilzt, als Naturereignis gefeiert, an dem Meer und Wind teilhaben, den kleingewachsenen und durchschnittlichen Karl Joseph Keller damit gewiss hoffnunglos überfordernd:
O breiter Flügel, zuckender Schulter entstiegen!
O bleicher Schwanenflügel, der mich beschattet!
O Nacken, flaumige Brust, o Leib, den ein Wiegen
Verschilfter Bucht umschläfert, zärtlich ermattet!
Von Michael Buselmeier aus: Michael Braun und Michael Buselmeier: Der gelbe Akrobat. 100 deutsche Gedichte der Gegenwart, kommentiert, Leipzig 2009